Please find further news articles of our authors here:


German English

Translations are intended to help international readers. We'd like to thank our volunteer translators for their hard work in helping make below articles accessible in as many languages as possible.
Your language is not available? Contact us to provide a translation.

Eine Perspektive ohne Auf und Ab

Wie viel Lockdown verträgt eine Gesellschaft? Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entwerfen einen Plan gegen Pandemie und Polarisierung.

Autoren: Sandra Ciesek, Armin Nassehi, Viola Priesemann, Iris Pigeot, Barbara Prainsack, Thomas Czypionka und Anita Schöbel

Veröffentlicht in “DIE ZEIT” Nr. 8/2021, 18.Februar 2021

Dieser Artikel kann übersetzt und gedruckt werden, insofern die Originalquelle zitiert wird: Eine Perspektive ohne Auf und Ab, Sandra Ciesek, Armin Nassehi, Viola Priesemann, Iris Pigeot, Barbara Prainsack, Thomas Czypionka und Anita Schöbel, DIE ZEIT Nr. 8/2021, 18.Februar 2021

Die Corona-Pandemie befindet sich in einer kritischen Phase. Die Winterwelle hat sich wegen zu später und nicht ausreichender Maßnahmen in die Länge gezogen. Jetzt sinken die Infektionsraten, und es stehen Entscheidungen über die weitere Strategie an. Dabei spielen die infektiöseren Varianten des Virus und die Impfmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Eine erneute Infektionswelle sollte vermieden werden. Wir legen hier einen Vorschlag vor, der sowohl die Wünsche großer Teile der Bevölkerung als auch die praktische Umsetzbarkeit mit dem medizinisch und epidemiologisch Notwendigen verbindet. Hauptziel dieser Strategie ist die Vermeidung eines Jo-Jo-Effekts, also der ständigen Wiederkehr hoher Infektionszahlen aufgrund verfrühter Lockerungen. Wir möchten damit eine Zukunftsperspektive für jeden Einzelnen wie für Gesellschaft und Wirtschaft aufzeigen.

Realistische und praktikable Ziele

Figure on effectiveness of containment measures
Dieses Diagramm zeigt, dass jede Vorsichtsmaßnahme Lücken lässt, die das Virus durchlassen könnten. Je mehr Maßnahmen zusammen angewendet werden, wie z. B. Distanz, Hygiene, Maske + Belüftung und App., Vermeidung von geschlossenen Räumen, Gruppen, Menschenmengen und lebhaften Gesprächen nebeneinander, begrenzter Kontakt und Test, Trace, Isolate (TTI), desto besser ist die Eindämmung. Die Kapazität der TTI-Strategie ist jedoch bei hohen Fallzahlen begrenzt, da die Maßnahmen der Gesundheitsbehörden verlangsamt werden und mehr Infektionen länger unentdeckt bleiben. Ein sich selbst wiederholendes Muster der Virusausbreitung setzt sich durch. Wie die Abbildung zeigt, ist die TTI bei geringen Fallzahlen wirksam (blau, grün) und die Zahlen bleiben auf einem niedrigen Niveau stabil. Wenn die Fallzahlen hoch sind, steigen auch die Infektionszahlen an.
© Grafik angepasst von: Contreras et al., Nat Commun 2021; Contreras et al., arxiv, 2021

In der Debatte über Ziel- und Grenzwerte gibt es zwei Pole: 1. ein Korridor bei hohen Inzidenzen, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten, und 2. eine zügige und vollständige Elimination des Virus.

Wählt man einen Korridor an der Belastungsgrenze der Intensivstationen (Pol 1), könnte man vorübergehend lockern. Spätestens wenn diese Belastungsgrenze wieder erreicht wäre, müssten die Lockerungen zurückgenommen werden. Denn die Stabilisierung der Fallzahlen erfordert bei hoher Inzidenz stärkere Verhaltenseinschränkungen als bei einer niedrigen Inzidenz, weil die Gesundheitsämter zur Eindämmung weniger beitragen können, wenn sich viele Menschen neu infizieren. Um in einem engen Korridor bei hohen Fallzahlen zu bleiben, müsste das Verhalten der Menschen präzise kontrolliert werden. Das ist nicht realistisch. Zudem nimmt man bei diesem Ansatz viele Kranke und Tote in Kauf: Mehr als 25 Millionen Menschen in Deutschland sind zwischen 50 und 75 Jahre alt. Infizieren sie sich mit Sars-CoV-2, versterben sie mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 0,3 bis 1 Prozent. Zudem würde das Gesundheitssystem noch über Monate stark belastet, insbesondere die Intensivstationen. Zusätzlich sind die gesellschaftlichen, gesundheitlichen und ökonomischen Langzeitfolgen von Long Covid nicht zu vernachlässigen. Eine Erleichterung durch Impfungen wird sich wohl erst über den Sommer zeigen. Es gibt bei diesem Ansatz zudem keinen Puffer zur Eindämmung der Variante B.1.1.7 und anderer. Auch der saisonale Effekt kann das wohl nicht ausgleichen: Sollte er bei 20 bis 30 Prozent liegen, wird er möglicherweise nicht einmal den Effekt von B.1.1.7 vollständig kompensieren.

Figure on effectiveness of containment measures
Die Eindämmung kann sich an den Kapazitäten auf den ICUs oder an der Kapazität zum Testen, Zurückverfolgen und Isolieren (TTI) orientieren. Unterhalb der TTI-Kapazitätsgrenze ist weit weniger Kontaktbegrenzung zur Stabilisierung der Fallzahlen erforderlich, da die Gesundheitsbehörden eine effektive Rolle bei der Eindämmung spielen. Wenn die TTI-Kapazität überschritten wird, kann eine schnelle Abriegelung die Fallzahlen schnell reduzieren. Die TTI-Kapazitätsgrenze hängt davon ab, wie gut die Gesundheitsbehörden arbeiten können, wie kooperationsbereit die Menschen sind und natürlich, wie viele soziale Kontakte sie haben. Diese Grenze ist also nicht konstant.
© Grafik angepasst von: Contreras et al., Nat Commun 2021; Contreras et al., arxiv, 2021

Der zweite Pol zielt darauf ab, zügig eine Nullinzidenz zu erreichen. Das hätte den Vorteil, dass sich das Virus nicht verbreitet. Man könnte mit wenigen Vorsichtsmaßnahmen ein fast normales Leben führen. Lokal begrenzt ist die Null im Sommer 2020 erreicht worden. Sie wäre derzeit jedoch schwer zu halten, da man an regionalen und nationalen Grenzen sehr engmaschig testen müsste, was weder möglich noch wünschenswert erscheint. Um derzeit die Null innerhalb weniger Wochen zu erreichen, müssten sehr komplexe und rigide Regeln umgesetzt werden, die das gesellschaftliche Leben weiterhin stark einschränken würden.

Diese beiden extremen Pole haben also erhebliche Nachteile. Wir schlagen deshalb die Strategie einer lokalen, differenzierten Eindämmung vor, bei der man akzeptiert, dass es lokal zu kleinen Ausbrüchen kommen kann, die Inzidenz aber trotzdem konsequent gesenkt und niedrig gehalten wird. Denn es ist klar: Je niedriger die Inzidenz, desto einfacher ist es, das Ausbruchsgeschehen zu kontrollieren. Die Gesundheitsämter können die Kontaktpersonen dann schneller isolieren und Infektionsketten schnell und gezielt stoppen. Auch Ausbrüche etwa in Krankenhäusern oder Pflegeheimen könnten besser verhindert werden, weil weniger unerkannt Infizierte durch Lücken eines Sicherheitssystems rutschten. Dasselbe gilt für Großveranstaltungen, die leicht zu Superspreading-Events werden können, wenn die Inzidenz hoch ist. Bei einer niedrigen Inzidenz sind vulnerable Gruppen also deutlich besser geschützt. Wird die niedrige Inzidenz zudem von vielen Landkreisen und Ländern erreicht, profitieren alle. Denn das Level, auf dem sich die Infektionszahlen einpendeln, ist proportional zum Eintrag von außen.

Die Motivation schwindet

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive muss man jedoch beachten, dass niedrige Fallzahlen nicht leicht zu erreichen und zu halten sind, wenn es dafür keinen starken gesellschaftlichen Konsens gibt und es den Menschen nicht auch praktisch möglich ist, sich an die Regeln zu halten. Hier sind folgende drei Aspekte zu beachten:

Nicht alle Menschen halten sich zu jeder Zeit an die geltenden Regeln. Zum einen schwindet die Motivation bei wachsender Unzufriedenheit mit Vorschriften, die als ineffizient oder ungerecht wahrgenommen werden. Zum anderen ist das Verhalten zwar meist gut zu steuern, wenn sich die Menschen in organisierten Settings aufhalten; sind sie aber weniger organisiert, lässt die Aufmerksamkeit oft nach – etwa in Pausen am Arbeitsplatz oder in alltäglichen Situationen. Zudem gibt es, je länger die Krise dauert, immer mehr Menschen, die sozial, psychisch und ökonomisch mit so großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dass sie sich die Einhaltung vieler Regeln gar nicht mehr leisten können.

Sinkende oder niedrige Fallzahlen erhöhen den Wunsch nach Lockerungen und erschweren so die Einhaltung von Regeln im Alltag. Das hat negative Effekte auf die Entwicklung der Fallzahlen. Eine künftige Strategie muss diesen Mechanismus in die Überlegungen einbeziehen.

Eine liberale Gesellschaft lässt sich nicht komplett steuern, weder bei niedrigen noch bei hohen Inzidenzen – das wäre auch nicht wünschenswert. Deshalb, nicht trotzdem, halten wir am ambitionierten Ziel niedriger Inzidenzwerte fest. Anders als oft behauptet, steht diese Strategie nicht der Freiheit der Bevölkerung entgegen. Im Gegenteil: Sie will für erreichbare Ziele motivieren und dadurch Freiheit gewinnen.

Wie setzt man das um? Unsere Gesamtstrategie der lokalen Eindämmung ist das Ergebnis einer Abwägung virologischer, epidemiologischer und sozialwissenschaftlicher Überlegungen. Wir kombinieren die notwendige Senkung der Inzidenz und der Reproduktionsrate R mit Überlegungen über die Gestaltbarkeit des alltäglichen Verhaltens der Menschen sowie mit einer Abwägung von Kollateralschäden, ohne die Aspekte gegeneinander auszuspielen. Entscheidend sind unter anderem die folgenden Aspekte.

Bei den Maßnahmen sollte immer klar kommuniziert werden, welche Überlegungen und welche Evidenz sie begründen; auch die Daten, die diese Evidenzbasis bilden, sollten der Öffentlichkeit zugänglich sein (zumindest aber der Wissenschaft). Zudem müssen Menschen mit den Mitteln ausgestattet werden, um Hygienekonzepte und Regeln einhalten zu können. Immer wichtiger wird, sensibel auf Ungleichheiten zu reagieren und diese zu beseitigen. Das kann etwa mit Überbrückungshilfen, staatlichen Krediten sowie Stabilisierungsprogrammen nicht nur für Unternehmen, sondern auch für private Haushalte geschehen. Vor allem für Menschen in prekären Lebenslagen sind dringend unmittelbare Hilfen, sozialarbeiterische und therapeutische Angebote bereitzustellen. Armutsvermeidung muss das Ziel sein – nur so können Härtefälle und die weitere Polarisierung der Gesellschaft vermieden werden. Und nur so kann man große Teile der Bevölkerung motivieren und von den Maßnahmen überzeugen.

Stufenpläne zur Orientierung

Figure on effectiveness of containment measures
Liegt der R-Wert über 1, steigen die Fallzahlen zunächst exponentiell an. Im vergangenen Herbst lag der R-Wert bei etwa 1.1 (helle Linie). Wird jedoch die TTI-Kapazität überschritten, beschleunigt sich dieser Anstieg, weil immer mehr Menschen das Virus unerkannt in sich tragen. Die Zahlen steigen schneller als exponentiell (dunkel gefärbte Linie). © Grafik angepasst von: Contreras et al., Nat Commun 2021; Contreras et al., arxiv, 2021

Wir brauchen gut durchdachte Stufenpläne, die transparent aufzeigen, welche Teile des öffentlichen Lebens in welcher Reihenfolge und auf Basis welcher Überlegungen geöffnet werden können. Das grundlegende Ziel muss dabei klar sein: Erst wenn ein stabiles und sicheres Inzidenzniveau erreicht ist, kann zielgerichtet, intelligent und regional abgestuft gelockert werden. Unser Vorschlag zielt mittelfristig auf eine Wocheninzidenz von 10 pro 100.000 Einwohner, wo immer möglich auch darunter. Die bekannten Werte von 25, 35 oder 50 stellen hier harte Obergrenzen dar, zu denen ein ausreichender Sicherheitsabstand angestrebt werden sollte. Ein Überschreiten der Inzidenz von 50 heißt etwa, dass zeitnah gravierende Lockdown-Maßnahmen nötig sind.

Regelmäßige Zufallsstichproben

Für die Stufenpläne braucht man repräsentative Infektionszahlen, etwa durch Zufallsstichproben in der Gesamtbevölkerung, unabhängig von Symptomen. Diese würden, nach Region und Alter aufgeschlüsselt, auch die Evaluierung der verschiedenen Eindämmungsstrategien erleichtern. Die aktuell diskutierten Stufenpläne orientieren sich vornehmlich an Inzidenzwerten. Die Wahl dieser Werte und der Steuerungsmechanismen muss mit Bedacht geschehen, um drei Risiken zu vermeiden: 1. zu frühe Lockerungen. Das führt zu einem erneuten unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen und kann schnell die Erfolge verspielen. 2. Stagnation auf zu hohem Niveau. Die Lockerungen verlangsamen den Rückgang so sehr, dass er zum Halten kommt. Geschieht das bei hohen Fallzahlen, müssen Beschränkungen angepasst werden. Weitere Lockerungen rücken in weite Ferne. 3. Auf steigende Fallzahlen wird nicht ausreichend reagiert. Bei einem Anstieg werden die Maßnahmen zwar nach Plan verschärft, aber möglicherweise nicht stark und schnell genug. Bei alldem muss die Gefährdung durch neue, ansteckendere Virusvarianten berücksichtigt werden. Ein Stufenplan braucht also einen starken Mechanismus, der den Anstieg der Fallzahlen konsequent stoppt und umkehrt.

Unsere Gesellschaft ist ein komplexes System, in dem viele Aspekte zusammenwirken. Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung können daher nicht am Reißbrett geplant werden; vielmehr braucht es einen Zugang, der die Gesellschaft als lernendes System versteht. In der Entwicklung von Maßnahmen sollte jeder einzelne Schritt klar begründet und kommuniziert, evaluiert und dann gegebenenfalls nachjustiert werden. Dies ist allerdings nur möglich, wenn entsprechende Daten vorhanden sind. Hier ist die regelmäßige Erhebung von Zufallsstichproben unabhängig von Symptomen unentbehrlich. Die Ergebnisse solcher Erhebungen können als Grundlage der Beurteilung dienen, ob ein Maßnahmenpaket effektiv ist oder ob einzelne Teile angepasst werden müssen, wenn sich etwa herausstellt, dass bestimmte Tätigkeiten weniger oder mehr Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben als zuvor angenommen.

Dies gilt auch für Stufenpläne. Die aktuell diskutierten Stufenpläne decken viele Bereiche detailliert ab. Dabei sollte auch der Bereich Industrie und Arbeitsplatz klar einbezogen werden. AHA+LA-GGG (Achten auf Abstand, Hygiene, Alltagsmaske + Lüften und App. Vermeiden von geschlossenen Räumen, Gruppen und Gedränge sowie lebhaften Gesprächen dicht an dicht), Homeoffice oder alternativ engmaschiges Testen helfen, die Pandemie einzudämmen.

Öffnungen sollten durch Tests begleitet werden, insbesondere Schnelltests können Infektionsketten früh entdecken. Damit die Kontaktnachverfolgung greift und Personen isoliert werden können, bevor es zu Ansteckungen kommt, müssen positive Ergebnisse meldepflichtig werden. Die weitere Digitalisierung der Gesundheitsämter kann hier helfen. Ohne diese Folgemaßnahmen entfalten Schnelltests nicht ihr Potenzial. Dabei dürfen diese Tests für niemanden eine finanzielle Hürde sein. Die Anzahl verfügbarer Schnelltests ist noch begrenzt. Die Verteilung muss also so geregelt werden, dass für den Schutz der Vulnerablen, am Arbeitsplatz oder in den Schulen ausreichend Tests zur Verfügung stehen. Hier sollten also dieselben Prinzipien gelten wie für den Zugang zu Impfungen, Schutzausrüstung oder Masken.

Die Impfung der Bevölkerung stellt einen vielversprechenden Weg aus der Pandemie dar. Neben der Verbesserung der Logistik sollten in klinischen Studien verschiedene Impfschemata untersucht werden.

Das Testen, die technischen Maßnahmen, AHA+LA-GGG sowie die Impfungen werden uns in den kommenden Monaten die Eindämmung schrittweise erleichtern. Gleichzeitig sind viele Fragen offen. Wie stark verringert die Impfung die Übertragung? Welche Herausforderungen kommen durch neue Virusvarianten? Wie lange hält die Immunität vor, und wie wird sich das Verhalten geimpfter Menschen über die nächsten Monate hinweg verändern? Bis diese Fragen geklärt sind und wir aufgrund der Impfungen einem Ende der Pandemie entgegensehen können, halten wir die hier vorgeschlagene dynamisch anpassbare Strategie mit einer oberen Grenze an Inzidenzen für den besten Weg aus der Pandemie.